Der Weltreisende
Unser Hinterhof war ein Ort immerwährender Geschäftigkeit. Menschen kamen und gingen, Handkarren zuckelten hin und her, oder Spenglermeister Reiter knatterte mit seiner »Horex«-Seitenwagenmaschine in den Hof, daß die Spatzen davonstoben. Häufig konnte ich die Geschicklichkeit der Kutscher bewundern, wenn sie mit lautem »Brrr« und »Hüh« ein vollbeladenes Pferdefuhrwerk rückwärts durch den langen Hauseingang und dann im scharfen Winkel in den hinteren Hof bugsierten, um dort Fässer und Flaschen in die tiefen Kellergewölbe der Weinhandlung zu schaffen. Ich hätte nicht zum Fenster hinauszuschauen brauchen, um zu wissen, was abgeladen wurde. Der Geruch der Weinfässer war so stark, daß man ihn noch im zweiten Stock bemerken konnte.
Roch es dagegen nach Käse, dann war der Lagerarbeiter vom Käs-Petri damit beschäftigt, aus dem Käselager, das sich neben dem hinteren Hauseingang befand und den Hinterhausbewohnern Mäuse und Kakerlaken in Mengen bescherte, Schweizerkäse in die Freßgasse zu transportieren. Zuvor zerteilte er die großen Käseräder in zwei Hälften. Das machte er mit einem einfachen Werkzeug. Es bestand nur aus einem dünnen Stahldraht, der an der einen Seite einen Holzgriff, an der anderen eine Schlinge hatte. Die Schlinge hängte er an einem gebogenen Nagel am unteren Karrenteil ein, legte den Draht der Länge nach genau auf die Mitte der Pritsche und den Käselaib auf den Draht, dann stemmte er den Fuß gegen den Käse, damit er nicht wegrutschte, und zog den Draht am Holzgriff der Länge nach durch.
Wenn aber der Gestank verbrennender Schweißdrähte ins Fenster drang, wußte ich, daß der Fahrradmechaniker und -reparateur Wagner in seiner Werkstatt wieder ein Rennrad zusammenbaute. Seine handgefertigten Rennräder waren weit über Frankfurt hinaus bekannt.
Ganz anders roch es dagegen, wenn Herr Schmidt, der Fahrer vom persischen Teppichhändler Janny, im vorderen Hof unter unserem Wohnzimmerfenster Teppiche wusch. Es roch dann wie nach verbrauchter Waschbrühe, der man viel Salmiak und einen Schuß Fliederduftessenz beigemengt hatte. Herr Schmidt schrubbte die wertvollen Stücke aus dem Orient mit seiner Spezialbrühe so heftig, daß die bunten Wollflocken später den Hof bedeckten, als sei dort ein Blumenbeet. Mindestens zweimal habe ich ihn bei Dunkelheit, als in den Werkstätten im Hof längst Feierabend war, mit einer Dame aus dem Vorderhaus in der Garage, die gleichzeitig als Lagerraum für die Teppiche diente, verschwinden sehen.
Aus einer Ecke des hinteren Hofs roch es eine Zeitlang nach frischer Ölfarbe. Dort geschah etwas Besonderes: ein Hausbewohner bereitete sich auf eine Weltreise vor. Er gehörte zu dem Millionenheer der Arbeitslosen. Während seine Frau an fünf verschiedenen Zugehstellen putzen ging, um ihre vier Mädchen satt zu bekommen, versuchte er, sich bei einem der Handwerker im Hof für ein paar Groschen nützlich zu machen. Die übrige freie Zeit bastelte er an irgend etwas herum, hatte tausend Ideen und Pläne im Kopf, die er mit jedem besprach, der bereit war, ihm zuzuhören, sogar mit mir, obwohl ich noch ein Kind war, kaum zwölf Jahre alt. Deswegen mochte ich ihn.
Er beschrieb mir ein Fahrrad mit Federaufzug, auf dem man mindestens zehn Kilometer fahren konnte, ohne zu treten, und dessen Konstruktion er komplett im Kopf hatte, und eine todsichere Alarmanlage gegen Kellereinbrüche, damit sich in diesen Notzeiten die Leute nicht mehr gegenseitig das Eingemachte, die Kartoffeln und die Kohlen aus den Kellern klauen konnten. Er fühlte sich verkannt und meinte, es könne nur mit den schlechten Zeiten zusammenhängen, daß niemand an seinen Erfindungen interessiert sei. Ich erinnere mich auch noch an die Krönung seiner Erfindertätigkeit, ein Perpetuum mobile. Einmal nahm er mich mit in seine Kammer, und ich durfte das Wunderwerk betrachten. Es sah aus wie ein Miniaturmühlrad, das in einem komplizierten Drahtgestell über einer halb mit Wasser gefüllten Blechschüssel aufgehängt war. Gab er dem Rad einen leichten Stups, begann es sich zu drehen, wobei es auf der einen Seite Wasser aufnahm und auf der anderen wieder abkippte. Es drehte sich wirklich erstaunlich lange. Der Erfinder versicherte mir, ihm fehle nur noch eine winzige Kleinigkeit an der Konstruktion, um zu erreichen, daß das Rad nie mehr aufhören würde, sich zu drehen.
Eines Tages hatte er in der hintersten Ecke des Hofes, neben dem hölzernen Aborthäuschen, das schon lange nicht mehr benutzt wurde, aber immer noch stank, einen provisorischen Arbeitsplatz eingerichtet und bastelte dort um sein altes Fahrrad einen merkwürdigen Winkeleisenrahmen. Auf diesen baute er aus Sperrholz einen Verschlag, der wie eine zu große Hundehütte aussah und sich von oben und von hinten offen ließ. Dann montierte er links und rechts an die mit dem Fahrrad verbundene Holzhütte je ein normales Vorderrad. Allen, die neugierig stehenblieben und fragten, was das werden solle, erläuterte er bereitwillig, daß er sich entschlossen habe, mit dem Fahrrad die Erde zu umrunden. Manche lachten über ihn und nannten ihn meschugge, andere bewunderten seinen Mut zu einem solchen Abenteuer. Jedenfalls war es ihm bitterernst damit. Das war die große Tat, von der er ein Leben lang geträumt hatte.
Immer wieder veränderte und verbesserte er etwas. Bei einer Weltreise, sagte er, müsse man schließlich mit allen Möglichkeiten rechnen. Wochenlang saß er in seiner Ecke, schraubte und sägte und teilte das Innere der rollenden Hütte sinnvoll ein, denn sie mußte nicht nur alle notwendigen Utensilien eines Weltreisenden, sondern in den Nächten auch ihn selbst aufnehmen. Mit Hilfe zweier Taschenlampenbatterien konnte er sich auch im Innern Licht machen. Nach eigenen Plänen hatte er sogar ein Schiebedach konstruiert, um sich gegen Regen zu schützen. Zum Schluß machte er das Ganze mit einer dicken Ölfarbenschicht wetterfest. Eine Seite versah er mit einer Zeichnung der genauen Route, auf der er die Welt umrunden wollte, und auf der anderen Seite stand in großen Buchstaben: In 3 Jahren von Frankfurt am Main (Germany) um die Welt.
Oft saß ich bei ihm und schaute ihm zu, und er erklärte mir immer wieder, warum er das Gewinde hier eindrehte und das Winkelblech dort anschlug. Und dabei erzählte er mir, durch welche Länder er fahren wolle und daß es ihm auf ein Jahr mehr oder weniger nicht ankomme, hier in Deutschland habe er sowieso keine Arbeit. An einem ganz gewöhnlichen Gummiball, der die Erde darstellen sollte, machte er mir verständlich, was Antipoden sind, und daß er die eines Tages auch besuchen werde. Damals wußte ich noch nicht, daß unsere Antipoden, wenn wir welche hätten, mitten im Pazifischen Ozean säßen.
Endlich war die farbenfrohe rollende Hütte des Weltreisenden startbereit. Es folgte eine Probefahrt um unseren Häuserblock, und am andern Tag fuhr er los. Nicht zu früh, denn alle Hausbewohner sollten seinen Aufbruch miterleben. Noch einmal umarmten ihn die vier Mädchen und seine dicke Frau, er schüttelte ein Dutzend Hände, schwang sich auf den Sattel und fuhr flott die abschüssige Kaiserhofstraße hinunter. Er schaute sich um, winkte mit der Schiebermütze, zog an der Klingelschnur und bog um die Ecke der Freßgasse, um dann weiter in Richtung Türkei zu fahren, seinem ersten großen Etappenziel.
Vierzehn Tage gingen ins Land, und von dem Weltreisenden kam keine Post. Wenn man die dicke Frau darauf ansprach, meinte sie, es sei doch sehr vernünftig von ihm, wenn er so sparsam mit seinem Geld umgehe, er werde sich schon früh genug melden, vielleicht erst, wenn er das Ausland erreicht habe.
Doch dann stand, zur Überraschung des ganzen Hauses, eines frühen Morgens die beräderte Hundehütte wieder im Hof. In der Nacht war der Weltreisende klammheimlich zurückgekommen. Am Nachmittag zeigte er sich auch wieder selbst. Den Arbeitern der Weinhandlung und den Handwerkern im Hof, die ihn umringten, während er die Schutzplane von seiner Hütte nahm, erklärte er mit freundlichem Lächeln, daß er nur zurückgekommen sei, um einen Konstruktionsfehler am Schiebedach zu beheben, denn als er in der Nähe von Karlsruhe in einen richtigen Regen gekommen sei, habe sich das Dach als undicht erwiesen.
Wieder saß er mindestens zehn Tage im Hof und bastelte und schraubte. Dann fuhr er ein zweites Mal los, etwas weniger spektakulär und drei Stunden früher als das erste Mal, mit einer leicht veränderten Reiseroute, denn angesichts der anhaltenden Bürgerkriegsunruhen in China hatte er sich entschlossen, das Reich der Mitte links liegen zu lassen. Und als er um die Ecke der Kaiserhofstraße bog, zog er nur noch ganz kurz an der Klingelschnur.
Er war nun mal vom Pech verfolgt. Ohne seine Fahrradkutsche, die hatte er unterwegs irgendwo abgestellt, kehrte er vier Wochen später per Anhalter zurück. Er verkroch sich in seiner Kammer und war mehrere Tage für niemanden zu sprechen. Als er sich wieder zeigte, war er ein anderer und nicht mehr so gesprächig wie früher. Aber dann erzählte er doch, daß er den Wolf bekommen habe, jene schmerzhafte Entzündung am Gesäß. Trotz aller Salben sei der Wolf nicht zu heilen gewesen. Dreimal habe er ihn behandelt und dreimal versucht, erneut zu starten, dann habe er aufgegeben.
»Ich bin froh, daß er wieder da ist«, sagte die dicke Frau und faßte ihn liebevoll am Arm.
Nachzutragen bleibt noch, daß er schon ein Jahr darauf einen für einen Weltreisenden doch recht erbärmlichen Tod starb. Er hätte es viel mehr verdient, vom Medizinmann eines Papuastammes irgendwelchen Göttern geopfert zu werden, und noch eher hätte ich ihm gewünscht, er wäre mit seinem Fahrrad im ewigen Eis des Himalaja oder im glühenden Sand der Sahara steckengeblieben, als sich beim Schneeschippen, einer Notstandsarbeit für Stempelgeldempfänger, eine Lungenentzündung zu holen, von der er nicht mehr genas.